Die Theorie hinter dem Geschichtsunterricht scheint einfach: Man recherchiert Quellen, in denen sich die Vergangenheit widerspiegelt, und präsentiert diese im Unterricht. Doch Geschichte ist mehr als das bloße Wiedergeben von Fakten; sie entsteht durch die Deutungen und Bedeutungen, die wir aus diesen Quellen ableiten. Daher ist Geschichte niemals „abgeschlossen“ – sie entwickelt sich ständig weiter, durch neue Erkenntnisse und Interpretationen. Diese Dynamik wird auch in den kompetenzorientierten Lehrplänen berücksichtigt. Im bayerischen LehrplanPLUS werden im Kompetenzstrukturmodell fünf sogenannte „prozessbezogene Kompetenzen“ (Sach-, Methoden-, Urteils-, Orientierungs- und Narrative Kompetenz) hervorgehoben, die im Geschichtsunterricht gefördert werden sollen[1].
Um ein reflektiertes Geschichtsbewusstsein zu entwickeln, braucht es jedoch Aufgabenstellungen, die über die bloße Sachkompetenz hinausgehen. Eine Herausforderung für Lehrkräfte besteht darin, dies in den oft knappen ein- oder zweistündigen Unterrichtseinheiten umzusetzen. In diesem Blogbeitrag möchte ich drei konkrete Szenarien vorstellen, wie der Einsatz von Fiete.ai im Unterricht einen entscheidenden Beitrag leisten kann – insbesondere in den Erarbeitungsphasen, um alle Schülerinnen und Schüler zu aktivieren.
Szenario 1: Erschließung einer schriftlichen Quelle – Von der Sach- zur Urteilskompetenz
Problembeschreibung
Die Analyse einer schriftlichen Quelle ist eine Standardsituation im Geschichtsunterricht. Nach der Einführung in das Thema erhalten die Schülerinnen und Schüler oft eine Textquelle zur Bearbeitung. Die Lehrkraft gibt die Arbeitszeit vor, und am Ende der Stunde werden zumeist brauchbare Ergebnisse präsentiert, die im Tafelbild festgehalten werden. Doch nur ein kleiner Teil der Klasse erhält in diesem Prozess individuelles Feedback. Zudem stellt sich die Frage, wie sinnvoll der „erarbeitende Geschichtsunterricht“ ist, wenn am Ende doch nur eine „richtige“ Lösung akzeptiert wird.
Lösungsansatz mit Fiete.ai
Für meine 9. Klasse entwickelte ich eine Aufgabe, die auf einer der bekanntesten Quellen des Deutschen Kaiserreichs basiert: der Rede Kaiser Wilhelms II. vom 06.08.1914 („Mitten im Frieden überfällt uns der Feind“)[2]. Ich lud den Text in Fiete.ai hoch und gab den Arbeitsauftrag: „Lies die dir bekannte Quelle und schreibe eine kurze Analyse nach den vorgegebenen Kriterien.“ Nach einer kurzen Einführung in die Funktionsweise von Fiete.ai und der Erläuterung der Kriterien sollten die Schülerinnen und Schüler das KI-Feedback nutzen, um ihre zweite Abgabe zu verbessern.
Die Kriterien lauteten:
- Fasse den Inhalt der Quelle in eigenen Worten zusammen.
- Stelle dar, wie Wilhelm II. seine Gegner einschätzt.
- Erläutere, wie Wilhelm II. den Charakter des kommenden Krieges beschreibt.
- Bewerte, ob Wilhelm in seinen Einschätzungen richtig lag, indem du dein Wissen über den Ersten Weltkrieg nutzt.
Ergebnis
Ohne die Einführung in Fiete.ai dauerte diese Unterrichtseinheit etwa 15 bis 20 Minuten. Die KI-Unterstützung stellte sicher, dass die ersten beiden Kriterien von allen Schülerinnen und Schülern erfüllt wurden. Im Unterrichtsgespräch konnte ich mich daher auf die Kriterien 3 und 4 konzentrieren, indem ich verschiedene gelungene Lösungen präsentieren ließ und zahlreiche Wortmeldungen dazu erhielt.
„Der Einsatz von Fiete.ai führte zu einer gesicherten Schulung der Sachkompetenz, einem gestärkten Selbstbewusstsein der Schülerinnen und Schüler durch das KI-Feedback und einer deutlich gehaltvolleren Diskussion zur Beurteilung des Redeinhalts am Ende der Stunde.“
Szenario 2: Analyse einer Karikatur – Methodenkompetenz durch KI-Einsatz fördern
Problembeschreibung
Karikaturen bieten aufgrund ihrer zeitnahen Veröffentlichung zum historischen Kontext einen spannenden Ansatz für den Geschichtsunterricht. Doch ihre Analyse erfordert oft ein vertieftes Verständnis. Eine Methodenstunde kann dabei helfen, in der die Klasse nach einem bestimmten Raster vorgeht, damit diese Kompetenz verlässlich abrufbar ist.
Lösungsansatz mit Fiete.ai
Seit dem 22.05. ist Fiete „multimodal“, das heißt, es können nun z. B. auch Bilder als Material hinzugefügt werden. Dies ermöglicht eine neuartige KI-gestützte Karikaturanalyse. Für eine 8. Klasse probierte ich dies mit der bekannten Bismarck-Karikatur „Der Lotse geht von Bord“[3] aus. Die Analyse folgte den sechs Leitfragen nach Uppendahl (1978)[4]:
- Beschreibe kurz, was auf dem Bild zu sehen ist.
- Nenne die gezeigten Personen und beschreibe, wie sie dargestellt sind.
- Bestimme, aus welchem Land die Karikatur stammen könnte.
- Gib an, zu welchem Zeitpunkt die Karikatur erschienen ist.
- Erläutere die Aussage der Karikatur, indem du auch auf die Größenverhältnisse der Personen eingehst.
- Beurteile, warum sich die Interpretation ändern könnte, wenn man den Originaltitel der Karikatur kennt: „Dropping the pilot“.
Ergebnis
Aufgrund der Vielzahl an Aufgaben ließ ich die Fiete-Aufgabe in Gruppen bearbeiten. Dadurch erfolgte ein Vorabaustausch, bevor die KI unterstützend „eingreifen“ konnte. Sicher ist es hilfreich, wenn bei den jeweiligen Klassen das nötige Vorwissen vorhanden ist – d. h. die Protagonisten aus der Karikatur also bekannt sind. Das o. g. Beispiel habe ich als eine Art Bonus-Stunde durchgeführt, um die „Methoden und Arbeitstechniken“ des Lernbereich 1 im LehrplanPLUS zu repräsentieren[5]. Hierbei würde ich durchaus ein Zeitfenster von 30 – 45 Minuten einplanen, aber der Aufwand lohnt sich meiner Meinung nach.
„In meinem Beispiel wirkte der Fiete-Einsatz dahingehend, dass die Gruppen nicht mit ihrer ersten Lösung zufrieden waren, sondern ohne dass ich sie als Lehrkraft darauf hinweisen musste, selbstständig ihre „Narrationen“ um weitere Aspekte ergänzten. “
Inwieweit Fiete.ai auch bei komplexen Geschichtskarten, detaillierten Statistiken oder umfangreicheren Karikaturen eingesetzt werden und ob dies auch ohne konkretes Vorwissen das historische Lernen unterstützen kann, wird Teil meiner Arbeit im nächsten Schuljahr sein.
Szenario 3: Einen fiktiven Dialog schreiben – Orientierungskompetenz durch Narrationen fördern
Problembeschreibung
Fiete.ai kann auch bei innovativen Prüfungsformaten im Geschichtsunterricht eingesetzt werden. In einer 6. Klasse entwickelte ich ein Prüfungsformat, bei dem die Schülerinnen und Schüler die KI zur Erstellung ihrer Prüfungsleistung nutzen durften. Der Fokus lag auf der Erstellung einer Narration, die die Orientierungskompetenz in Bezug auf die Entwicklung der „Olympischen Spiele“ schult.
Lösungsansatz mit Fiete.ai
Der Arbeitsauftrag lautete: „Schreibe einen Dialog zwischen einem antiken Olympioniken und einem 12-jährigen Jugendlichen über die antiken Olympischen Spiele. Stelle dir vor, dass der Olympionike aus der Vergangenheit in unsere heutige Zeit reist und auf den Jugendlichen trifft. Der Dialog sollte Informationen über das Leben, Training und die Wettkämpfe des Olympioniken enthalten sowie Unterschiede und Gemeinsamkeiten zu den modernen Olympischen Spielen aufzeigen. Außerdem soll erklärt werden, welche Regeln es gab und welche Rolle die Religion spielte. Am Ende musst du angeben, aus welchen Quellen du die Informationen entnommen hast.“
Die Schülerinnen und Schüler hatten drei Doppelstunden Zeit, an ihrem Dialog zu arbeiten, wobei in der letzten Doppelstunde der Fiete-Zugang gewährt wurde. Die entstandenen Dialoge konnten anhand folgender Kriterien noch verbessert werden:
- Es sollten genügend Informationen über die antiken und modernen Olympischen Spiele enthalten sein.
- Die Dialogpartner sollten unterschiedlich sprechen – ein Jugendlicher und ein antiker Olympionike.
- Der Dialog sollte kreativ und humorvoll sein.
- Es darf auch Jugendsprache verwendet werden.
- Diskutiere Unterschiede in der Wahrnehmung und Bedeutung von sportlichen Wettkämpfen damals und heute.
- Es soll ein lebendiges Gespräch entstehen.
Ergebnis
„Fast alle Schülerinnen und Schüler nutzten die KI, um ihre Dialoge zu überarbeiten, und gaben in einer abschließenden Umfrage an, dass dies ihnen ein Gefühl der Sicherheit gab. “
Viele waren überrascht, dass sie während einer Prüfungsleistung ein Hilfsmittel nutzen durften. Bei den abgegebenen Dialogen zeigte sich bei der Klasse durchweg ein gutes Verständnis für die konkreten Unterschiede während der historischen Entwicklung der Olympischen Spiele, und viele Schülerinnen und Schüler zeigten Freude am Verfassen historischer Narrationen – insbesondere auch diejenigen Kinder, die Legasthenie haben und narrative Prüfungsformate oft ablehnen.
Fazit
Diese Einblicke in meinen Geschichtsunterricht sollen Anregungen geben, wie Fiete.ai konkret eingesetzt werden kann. Ich hoffe, dieser Beitrag dient als Startpunkt für weitere Ideen und Diskussionen. Denn die oft schwer greifbare und sich nicht gut transparent abbilden lassende Kompetenzorientierung im Geschichtsunterricht kann durch den Einsatz von KI in jedem Fall zielgerichteter erreicht werden – denn allen Beispielen liegt zugrunde, dass der Lernprozess anregt und auch für den Unterrichtsverlauf gewinnbringend berücksichtigt wird. Zusammenfassend lässt sich sagen …
- Es lassen sich für alle geforderten fünf Kompetenzen aus dem LehrplanPLUS Unterrichtsbausteine mit Fiete.ai konzipieren.
- Durch die Feedback-Schleife lassen sich auch im Geschichtsunterricht Aufgaben erstellen, bei denen der individuelle Lernprozess anregt wird. Das müssen nicht einmal besonders kreativ-neue Formate sein, auch traditionelle Formen lassen sich mit KI modifizieren.
- Sehr angenehm ist, dass alle Schülerinnen und Schüler eine persönliche Rückmeldung zu ihren Arbeitsergebnissen bekommen. Das ist gerade in einem „Nebenfach“ noch schwerer als in einem „Hauptfach“ zu realisieren.
- Die Akzeptanz bzgl. des Einsatzes von Fiete.ai ist bei Schülerinnen und Schülern in der Regel sehr hoch, teilweise wurde auch an anderen Stellen eingefordert Fiete zu nutzen, an denen ich es gar nicht eingeplant hatte.
Es wird spannend zu sehen sein, ob sich diese Effekte auch abnutzen könnten. Aber der Einsatz von Fiete ist sowohl in technischer als auch organisatorischer Hinsicht eine echte Neuerung für den Geschichtsunterricht, bei der es sich lohnen würde, auch in geschichtsdidaktischer Sicht meine subjektiven Einschätzungen und Erfahrungen wissenschaftlich genauer unter die Lupe zu nehmen.
[1] Vgl. https://www.lehrplanplus.bayern.de/fachprofil/realschule/geschichte (zuletzt abgerufen am 27.08.2024)
[2] Text der Rede im Internet gut „greifbar“, z. B. hier: https://www.dhm.de/lemo/bestand/objekt/schmuckblatt-mit-der-rede-wilhelms-ii-zum-kriegsbeginn-1914.html (zuletzt abgerufen am 27.08.2024)
[3] Vgl. dazu auch: https://de.wikipedia.org/wiki/Der_Lotse_geht_von_Bord (zuletzt abgerufen am 27.08.2024)
[4] Siehe dazu: Uppendahl, Herbert u. a.: Die Karikatur im historisch politischen Unterricht. Eine Einführung mit Unterrichtsbeispielen. Freiburg 1978.
[5] Dabei werden die Kompetenzerwartungen 1 und 2 in besonderem Maße tangiert:
„Die Schülerinnen und Schüler …
„reflektieren bei der Analyse von Quellen die Bedeutung von Urheber, Auftraggeber, Adressat oder Aussageabsicht für den Aussagegehalt der Quelle. Unter anderem analysieren sie Bildquellen (z. B. Historiengemälde, Karikaturen) hinsichtlich ihrer äußeren Form (z. B. Perspektive, Bildkomposition) sowie Inhalt, Urheber, Auftraggeber oder Zielgruppe und wenden die dabei entwickelten Fertigkeiten der Bilddeutung auf heutige Bilder (z. B. Fotografien von Personen des öffentlichen Lebens, Karikaturen) an.“
„bilden historische Narrationen, in denen unterschiedliche historische Perspektiven zum Ausdruck kommen ...“
(vgl. https://www.lehrplanplus.bayern.de/fachlehrplan/realschule/8/geschichte (zuletzt abgerufen am 27.08.2024)
Autor
Kai Wörner unterrichtet neben dem Fach Deutsch als Seminarrektor das Fach Geschichte an der Realschule am Europakanal Erlangen II in Bayern. Digitalisierung ist sein Thema: Er arbeitet seit 2011 mit Tablets im Unterricht und engagiert sich seit Jahren in der Lehrerfortbildung. Aktuell beschäftigt er sich mit KI und deren Auswirkungen auf die Bildungslandschaft und Medienpädagogik.