KI-Paradoxien

Von am 02.10.24
Inhalt

Widersprüche im Umgang mit Künstlicher Intelligenz in der Schule

Während KI-Systeme das Potenzial haben, Lernprozesse zu verbessern und Lehrkräfte zu entlasten, treten im Schulalltag paradoxe Effekte auf: Entlastung, Kompetenzen, Motivation und einige andere Bereiche stehen in einem oft widersprüchlichen Verhältnis zu den Erwartungen. Mit Blick auf diese Widersprüche wird mir zunehmend klarer, warum es so schwierig ist, KI „in die Fläche“ zu bringen. Ob wir sie auflösen können, vermag ich derzeit nicht zu beurteilen. Möglicherweise ist es ein Teil des kollektiven Lernprozesses, mit den folgenden Paradoxien umzugehen bzw. sie zumindest auszuhalten.

Neun schulbezogene KI-Paradoxien

  • Das Entlastungsparadoxon: Ohne Frage können KI-Systeme dazu beitragen, Lehrkräfte in vielerlei Hinsicht zu entlasten. Gleichzeitig tritt dieser Effekt nur ein, wenn eine gewisse Einarbeitungsleistung vollbracht wird. Diese kommt als on-top-Aufgabe und zusätzliche Belastung zu anderen Verpflichtungen hinzu und wird deshalb häufig aufgeschoben oder abgelehnt. Letztlich muss man erst über den Berg drüber, bevor man den neuen Horizont erblickt.
  • Das Kompetenzparadoxon: Lehrkräfte und Schüler*innen benötigen ein hohes Kompetenzniveau (sprachliche Fähigkeiten, Prompting, kritisches Denken etc.), um KI-Systeme sinnvoll und zielführend einsetzen zu können. Gleichzeitig werden verschiedene Fähigkeiten erst entwickelt, wenn die entsprechenden Systeme aktiv genutzt und Routinen entwickelt werden. Ein Nacheinander ist mit Blick auf die vielschichtigen KI-Kompetenzen nur schwer vorstellbar.
  • Das Toolparadoxon: Lehrkräfte wissen, dass es nicht auf einzelne KI-Werkzeuge ankommt. Entscheidend sind vielmehr der sich wandelnde Bildungsauftrag, Zukunftskompetenzen und das Lernen in einer von KI-geprägten Welt. Gleichzeitig ist der Diskurs überwiegend vom „jetzt kann KI …“ – Charakter geprägt. Wir müssten mehr über Lernen reden, benötigen aber Werkzeuge, um Bildung und Lernen in neuer Weise zu erschließen.
  • Das Kooperationsparadoxon: Lehrkräfte wie Schüler*innen finden die Arbeit mit KI entlastend, gewinnbringend und sinnvoll für verschiedenste Einsatzgebiete (Vorbereitung, Lernen, Aufgabenbewältigung etc.). Gleichzeitig gelingt die gemeinsame Akzeptanz im Unterricht an vielen Stellen nicht. Misstrauen und Skepsis verhindern, dass Co-Konstruktionsprozesse mit KI als kollektive Arbeitsweise zur Gewohnheit werden. Im schlimmsten Fall führt das dazu, dass Schüler*innen die Nutzung von KI verschleiern, um sich nicht dem Vorwurf des Betrügens aussetzen zu müssen. Auf der individuellen Ebene findet Kooperation statt, doch letztlich bleibt jeder in seiner Sphäre gefangen.
  • Das Motivationsparadoxon: KI-Systeme können die Motivation von Schüler*innen steigern, indem sie personalisierte Unterstützung, sofortiges und individuelles Feedback und flexible Lernumgebungen bieten. Gleichzeitig kann der Einsatz von KI zu einer abnehmenden Eigeninitiative führen (Skill Skipping), möglicherweise sogar zu Kompetenzabbau (Deskilling) und/oder einem Gefühl der Abhängigkeit von der Technologie. Während KI das Lernen erleichtert, wird die intrinsische Motivation, sich Herausforderungen eigenständig zu stellen, möglicherweise abgeschwächt.
  • Das Gerechtigkeitsparadoxon: KI-Systeme bieten Chancen für mehr Bildungsgerechtigkeit, da sie in weiten Teilen kostenfrei und unabhängig vom Elternhaus zur Verfügung stehen, um Lernende individuell zu fördern. Gleichzeitig profitieren hauptsächlich diejenigen davon, die über ein höheres Bildungsniveau verfügen und die Systeme für sich – dank entsprechender Kompetenzen – zu nutzen wissen. KI wirkt dabei als ein weiterer Verstärker. Die einen ziehen mit zahlreichen individuellen Entfaltungsmöglichkeiten davon, während die anderen noch weiter abgehängt werden.
  • Das Geschwindigkeitsparadoxon: Betrachtet man das Tempo der KI-Innovationen müsste sich das Bildungssystem in kürzester Zeit und auf verschiedenen Ebenen an die neuen Gegebenheiten anpassen. Gleichzeitig benötigen Anpassungsprozesse der Institution Schule Jahre und mitunter auch Jahrzehnte, bis Infrastruktur und Knowhow aufgebaut werden. Die Zeit, die für hierfür benötigt wird, steht jedoch nicht zur Verfügung, sodass Bildungseinrichtungen mit veralteten Systemen und überholten Konzepten arbeiten müssen, obwohl neue und fortschrittlichere Technologien verfügbar wären.
  • Das Administrationsparadoxon: Die Ebenen der Bildungsadministration erkennen die Notwendigkeit, dass Schulen auf die Entwicklungen im Bereich der Künstlichen Intelligenz reagieren müssen. Gleichzeitig gelingt es nicht in ausreichender Form, Schulen mit der nötigen Infrastruktur, mit Zugängen zu datenschutzkonformen KI-Tools und/oder Anpassungen im Prüfungsrecht auszustatten. Starre Verwaltungsstrukturen stehen dem Einsatz von KI entgegen, obwohl genau dieser gefordert wird.

Und zuletzt …

  • Das Erkenntnisparadoxon: Verständlicherweise wünschen sich viele Beteiligte valide Forschungsergebnisse, die zeigen, welcher KI-Einsatz in welcher Weise wirksam ist. Gleichzeitig lassen sich diese Erkenntnisse nur anhand von Untersuchungen einer bereits veränderten Praxis (rückwirkend) generieren. Um neue Evidenzen zu erhalten, sind wir gezwungen, ohne forschungsgeleitete Orientierung auszuprobieren und neue Felder des Lehrens und Lernens zu erkunden.

Was fangen wir mit diesen Erkenntnissen an?

Zum Wesenskern von Paradoxien gehört, dass die tatsächlichen Gegebenheiten im Widerspruch zu bestehenden Ansprüchen stehen. Das ist mit Blick auf die Schule nichts neues und muss auch an anderen Stellen ausgehalten werden. Ähnliche Spannungsfelder bestehen beim Bemühen um individuelle Förderung und der häufig standardisierten Bewertungspraxis an Schulen. Messinstrumente stehen zudem oft im Widerspruch zu modernen Bildungszielen und auch mit Blick auf Chancengleichheit ist allen Lehrkräften klar, dass die Schule häufig eher Ungleichheiten verstärkt als diese auszugleichen.

Doch während wir uns an diese Widersprüche gewöhnt haben, verhält es sich mit KI-Disruption anders.

Nimmt man die technischen Entwicklungen ernst, können wir nicht mehr einfach in der Art und Weise weiterarbeiten, wie wir es bisher gemacht haben.

Künstliche Intelligenz verändert als niedrigschwelliges Denkwerkzeug die Art und Weise, wie wir lernen und wie mit Information umgegangen wird auf fundamentale Art und Weise. Dies zu ignorieren, führt mindestens zu einer Verschärfung der ohnehin schon bestehenden Entfremdung zwischen Lernenden und dem System Schule.

Widersprüche auflösen

Diese neuen Möglichkeiten auch in der Institution Schule kritisch zu erkunden, erfordert Mut und eine Haltung, bei der wir uns selbst als Lernende verstehen. Lernende, die gemeinsam im Kollegium und mit Schülerinnen und Schülern ausprobieren, reflektieren, kritisch bewerten und neue Wege erproben. Idealerweise geht es dabei nicht nur darum, all die beschriebenen Widersprüche auszuhalten, sondern die einzelnen Bereiche aktiv zu gestalten und unsere Rolle in einer sich verändernden Welt bewusst anzunehmen.

Gleichzeitig sind die beschriebenen Aspekte auch ein Call to Action:

Auf allen Ebenen des Bildungssystems muss Bewegung entstehen, um Antworten auf die KI-bezogenen Entwicklungen zu finden.

Die Analyse der Paradoxien kann dabei helfen, ein tieferes Verständnis der aktuellen Herausforderungen zu entwickeln und im besten Fall zum Auflösen der Widersprüche beitragen.

Der Beitrag „KI-Paradoxien“ erscheint zeitgleich auf dem Blog von Joscha Falck.

Autoreninfo

Joscha Falck ist Mittelschullehrer und Schulentwicklungsmoderator in Mittelfranken. Darüber hinaus ist er als Fortbildner, Referent, Blogger und Autor tätig. Im März 2024 ist sein zweites Buch zum Thema Künstliche Intelligenz in Schule und Unterricht erschienen. Infos und Kontakt:

www.joschafalck.de