Das Argumentieren ist als eine der prozessbezogenen Kompetenzen für den Mathematikunterricht von zentraler Bedeutung. Eine Schwierigkeit stellt dabei im Unterricht häufig die Präsentation und Besprechung der Ergebnisse dar. Aus zeitlichen Gründen können im Unterricht oft nur wenige (schriftliche) Argumentationen ausführlich besprochen werden. Oft wünschen sich aber alle Schüler*innen ein Feedback. Eine unlösbare Schwierigkeit?
Fiete: Auch geeignet für den Mathematikunterricht?
Etwas neidisch habe ich daher auf das neue und KI-gestützte Tool Fiete geschaut. Fiete liefert laut Aussage der Entwickler in Windeseile ein individualisiertes und KI-gestütztes Feedback zu Schüler*innentexten und -aufgaben. Anstatt nach einem einheitlichen Schema vorzugehen, passe sich das Feedback an die Vorgaben und Kriterien an, die wir Lehrkräfte festlegen. Das klingt doch toll, allerdings ist Fiete - zumindest auf den ersten Blick - eher etwas für den Deutsch-, Fremdsprachen-, Geschichts- oder Politikunterricht. Dachte ich...
Nach vielen positiven Rückmeldungen von Lehrkräften, die Fiete bereits im Unterricht einsetzen, wollte ich dann doch schauen, ob ich das Tool nicht auch im Mathematikunterricht nutzen kann.
Wie funktioniert Fiete?
Als Lehrkraft muss ich im Voraus eine Aufgabe sowie die passenden Feedbackkriterien in der Fiete-App (browserbasiert) anlegen. Die Aufgabenstellung wird den Schüler*innen dann per Link oder QR-Code zugänglich gemacht. Ohne Anmeldung, browserbasiert und lediglich unter Angabe ihres Namens können sie die Aufgabe digital bearbeiten (1. Abgabe), bekommen ein Feedback zu ihrer Bearbeitung, können ihren Text anhand der Kriterien überarbeiten (Finale Abgabe) und erhalten ein erneutes Feedback.
Für mich als Lehrkraft spart der Einsatz von Fiete nicht nur Zeit, sondern es gibt mir auch einen guten Überblick über den Lernstand meiner Klasse, der in der als Auswertung in Form von Diagrammen aufbereitet wird. Gerade die Gegenüberstellung der Auswertung der 1. und der Finalen Abgabe finde ich hier gelungen.
Der Praxistest: Winkelsummen im Dreieck
In meiner 6. Klasse stand das Thema „Winkelsumme im Dreieck“ an. Ein Thema, das vielfältige Argumentationsanlässe bietet. Die Herausforderung besteht im Fach Mathematik darin, die Schüler*innen dazu zu bringen, ihre mathematischen Argumentationen präzise, verständlich, allgemeingültig und unter Verwendung von Fachbegriffen zu formulieren.
Die Aufgabe war simpel: Beurteile die Aussage von Britta: „Mein Dreieck hat zwei stumpfe und einen spitzen Winkel.“
Die Schüler sollten im Sinne einer Beurteilung im Fach Mathematik nicht nur entscheiden, ob diese Aussage richtig oder falsch ist, sondern auch die passende Begründung zur Entscheidung darlegen. Hierbei kam in diesem Fall der Begründungstyp Bezug auf Vorwissen zum Einsatz.
In den vorangegangenen Stunden hatten die Schüler*innen bereits die drei Begründungstypen Begründung durch Gegenbeispiel, Begründung durch Existenznachweis und Begründung durch Bezug auf das Vorwissen kennengelernt und an verschiedenen Beispielen erprobt. Zum Einsatz kam dabei das LEMAMOP-Material (Lerngelegenheiten für Mathematisches Argumentieren, Modellieren und Problemlösen, ein Niedersächsischer Schulversuch unter wissenschaftlicher Begleitung von Prof. Dr. Bruder (TU Darmstadt: https://www.westermann.de/artikel/978-3-14-122845-8/LEMAMOP-Lerngelegenheiten-fuer-Mathematisches-Argumentieren-Modellieren-und-Problemloesen-Argumentieren )), das ich wirklich empfehlen kann.
Die Vorbereitung
Die Erstellung der Aufgabe in Fiete war einfach und selbsterklärend. Innerhalb von ca. zehn Minuten hatte ich die Kriterien für das Feedback hinterlegt und konnte die Aufgabe live stellen. Für mathematische Argumentationen empfiehlt es sich nach meiner bisherigen Erfahrung - anders als in den in der App angelegten Vorlagen z.B. für Inhaltsangaben - nicht nur formale, sondern auch inhaltliche Kriterien zur korrekten Lösung der Aufgabe festzulegen, anhand derer Fiete das Schülerfeedback generieren soll (siehe Kriterien unten).
Es muss bei der Formulierung der Kriterien grundlegend bedacht werden, dass LLM nicht rechnen können. Aus diesem Grund habe ich mich dafür entschieden, auch inhaltliche Kriterien einzubeziehen.
Damit die Schüler*innen im von Fiete erstellten Feedback nicht die Lösungen der Aufgabe angezeigt bekommen, sollte man bei dieser Vorgehensweise als Lehrkraft in den Einstellungen zur Aufgabe hinterlegen, dass die Feedbackkriterien vor den Schüler*innen verborgen werden sollen.
Die Durchführung im Unterricht
Auch für die Schüler*innen war die Nutzung von Fiete nach einer sehr kurzen Einweisung völlig unproblematisch und selbsterklärend. Schon die Sechstklässler*innen arbeiteten damit weitgehend eigenständig.
Dafür sorgt die an vielen Stellen gut durchdachte Usability der App:
- Die Benutzeroberfläche ist einfach und übersichtlich gestaltet.
- Schüler*innen können ihre Aufgabenbearbeitungen nicht nur direkt eintippen, sondern auch als Foto importierten.
- Nach dem Feedback wird der von den Schüler*innen eingegebene Text automatisch in den Editor für die Finale Abgabe übertragen, so dass der Text dort direkt überarbeitet werden kann. Das Feedback bleibt unten auf der Seite jederzeit sichtbar.
Schnell zeigte sich im Unterricht die Magie von Fiete: Die Schüler*innen reichten ihre mathematischen Argumentationen ein und erhielten nach nur ein bis zwei Minuten eine Rückmeldung – nicht nur ein „Richtig“ oder „Falsch“, sondern konstruktive und kriteriengeleitete Hinweise darauf, was gut war und was verbessert werden kann.
Feedback, das ankommt, motiviert und von der Lehrkraft ergänzt werden sollte
Das Echo der Klasse war durchweg positiv: Die Schüler*innen konnten das Feedback gut nachvollziehen und fühlten sich dadurch in ihrem Lernprozess unterstützt. Die konkreten Kriterien, die ich festgelegt hatte und auf die sich das Feedback bezog, waren dabei ihrer Ansicht nach sehr hilfreich. Das Feedback beinhaltet sowohl Lob als auch konstruktive Kritik, was die Lernenden sichtlich motivierte. Vor allem die farbigen Fortschrittsbalken, die zu jedem Kriterium ausgegeben werden und die (durch die gestrichelte Linie) die Weiterentwicklung anzeigen, sind aus Schüler*innensicht besonders hilfreich.
Schaut man sich das Feedback von Fiete im Detail an, dann entdeckt man an der ein oder anderen Stelle noch Verbesserungspotential. Eine Schülerin schrieb in ihrer Begründung beispielsweise das Wort "Winkelsumme" fehlerhaft ("Winckelsumme"), was dazu führte, dass Fiete das Kriterium Bezug auf die Winkelsumme von 180° schlecht beurteilte. In solchen Situationen ist selbstverständlich die Lehrkraft gefragt und muss ergänzen und Hilfestellungen leisten.
Zentral ist für mich aber, dass Fiete etwas leistet, das ich als Lehrkraft nicht schaffen könnte: Durch Fietes Feedback für alle Schüler*innen haben es alle Lernenden in einer 45-minütigen Stunde geschafft, ihre Argumentationen zu verbessern. Das zeigt die Durchsicht der Ergebnisse eindeutig.
Interessanterweise waren sogar Schüler*innen, die sonst nicht gerne Texte schreiben, motiviert dabei. Bei ihnen war zu beobachten, dass aus der ersten Eingabe, die nur aus einem einzigen Satz bestand („Die Aussage ist falsch, weil ein stumpfer Winkel immer größer als 90° ist.“), in der Überarbeitung tatsächlich deutlich längere, bessere oder sogar gute Begründungen wurden.
Unsere Wünsche an die Fiete-Entwickler
Die Schüler*innen wünschten sich die Möglichkeit, ihre Texte (freiwillig) noch ein zweites Mal überarbeiten zu können. Eine wertvolle Anregung, die ich nur unterstützen kann, denn im Fach Mathematik fallen solche Argumentationen (in der Sek I) meist recht kurz aus und eine weitere Überarbeitungsschleife wäre somit hilfreich und zeitlich möglich.
Ich von meiner Seite habe ich auch einige Wünsche an die Entwickler von Fiete:
- Eine integrierte Rechtschreibkorrektur nach Abgabe der Texte wäre fantastisch.
- Ebenso wäre es praktisch, beim Anlegen der Aufgabe die Reihenfolge der Feedbackkriterien verändern zu können.
- Das Feedback sollte sprachlich an das Alter der Schüler*innen angepasst werden. (Ihr Alter gibt man in Form der Klassenstufe bei der Erstellung der Aufgabe an.) In einem Feedback für eine meiner Schülerinnen kam z.B. der Begriff „explizit“ vor, der in dieser Altersstufe in der Regel nicht bekannt ist.
- Eine einfache Exportfunktion der Ergebnisse der Schüler*innen wäre ebenfalls eine willkommene Ergänzung.
- Eine Bezahlversion für feste Feedbackkontingente wäre gerade für Mathematik und naturwissenschaftliche Fächer super. Ein monatliches Abo würde sich für unsere Fächer eher nicht lohnen.
Fazit: Fiete – Eine tolle, noch nicht perfekte, aber hilfreiche Unterstützung auch für den Mathematikunterricht
Zusammengefasst hat Fiete nicht nur meine Schüler*innen, sondern auch mich positiv beindruckt und wird nun fortan an geeigneten Stellen meinen Unterricht bereichern. Fiete ist wie ein zusätzlicher Assistent, der sich auf das konzentriert, was im Unterricht in den genannten Situationen vorher manchmal nicht vollumfänglich möglich war: individuelles Feedback für jede Schülerin und jeden Schüler.
Natürlich kann und sollte das Feedback von Fiete durch die Lehrkraft kritisch geprüft und muss teilweise ergänzt werden. Da man in der App einen schnellen Überblick über alle Ergebnisse der Schüler*innen hat, ist ein ergänzendes Feedback an notwendigen Stellen während des Arbeitsprozesses der Schüler*innen gut möglich.
Wie Fiete sich bei komplexeren mathematischen Argumentationen schlägt, muss der weitere Einsatz zeigen.
Janina Brüggemann ist Mathematik- und Französischlehrerin an einem Gymnasium in Hannover und außerdem als Fachleiterin Mathematik am Studienseminar in Hannover tätig. Auf ihrer Website https://mathemia.de/ schreibt sie vor allem über den Einsatz digitaler Medien im Mathematikunterricht.